Tagebuch eines blassen, dünnen Jungen

Besonders

Vor ein paar Tagen sah ich ein Video, das die provokante Frage stellte: “ist jeder besonders?” Unserer Generation werde ja regelrecht eingetrichtert, wir seien besonders und jeder einzelne sei zu Großem bestimmt. Vielleicht sei also überhaupt nicht jeder besonders, sondern nur einige wenige, die tatsächlich genug Disziplin haben, im richtigen sozialen Milieu geboren sind oder die, die einfach Glück hatten.

Nun hat dieses Video mich dazu getrieben, mir selbst mal wieder die Frage zu stellen: “Bin ich besonders?” und zu zweifeln: “Möglicherweise bin ich ja überhaupt nicht besonders.”

Hier noch einmal ein Fingerzeig auf die Erläuterung, dass “besonders sein” für mich synonym ist mit der Gabe, durch kreatives Schaffen Anerkennung, einen Lebensinhalt und Lebensunterhalt generieren zu können.

Die Wahrheit ist, ich war immer fest überzeugt, anders zu sein und, ja, auch besonders. Das hat mitr meine Umwelt auch immer wieder klar gemacht. Auf negative und positive Weisen. Wahr ist aber auch, dass Disziplin eine meiner größten Schwächen ist. Ich bin fest überzeugt, ich kann schreiben. Ich bin besonders. Wenn ich mir aber die Statūs von allen ehemaligen Schulkollegen anschaue, denkt offenbar jeder genau dasselbe… obwohl sie beruflich in einer Ausbildung zur Kaufperson im Einzelhandel gelandet sind weist dennoch alles darauf hin, dass sie viel lieber kreativ wären. Besonders.

Ein weiterer interessanter Impuls kam in den letzten Tagen von einem Follower, der twitterte, er halte es für unmöglich, dass sich einer in dieser unserer sieben Milliarden Mann starken Gesellschaft tatsächlich einbilden könnte, einzigartig und besonders zu sein.

Der Mensch in seinem unendlich großen Narzissismus, wiegt sich tatsächlich oft ruhig in der Vorstellung, er sei mit einem Gedanken, einer Idee oder einer Ansicht allein auf der Welt. Diese Illusion wird spätestens dann zerschmettert, wenn wir unserem digitalen Nickname die Ziffern unseres Geburtsdatums anhängen müssen.

Genau das ist aber auch das wunderschöne an unserer Existenz. Wir sind nicht allein. Es gibt da draußen Menschen wie uns, die denken wie wir oder die gleichen Wünsche und Talente haben. Es ist das großartigste Gefühl jemanden zu treffen, der eure Ansichten teilt. Möglicherweise ist diese Ansicht dann eben nicht besonders, aber als Person ist man nicht mehr allein. Eine Vision ist nicht mehr nur ein hypothetischer Blick auf eine mögliche Zukunft. Sie wird ein Projekt. Und das gilt es anzupacken. Zu viele Köche verderben die Suppe? Vielleicht mag das ja stimmen. Aber bevor ich mir überlege, lieber Fast Food über irgendeine App zu bestellen und mich, weil es ja gerade so bequem ist, von der x-ten gestellten Insta-Story ablenken lasse, fange ich lieber an zu kochen. Ich werde probieren. Ich werde es auslöffeln.

Neue Frisur & Nagellack

Ich habe mir heute mein Haar das erste Mal selbst geschnitten. Die Haupt-Motivation dahinter war, die zehn Euro zu sparen, die ich normalerweise ausgegeben hätte. Wenn man ehrlich ist, sind zehn Euro an sich ein sehr annehmbarer Betrag für einen Friseurbesuch, aber ich habe nur zehn Euro gesehen, die ich sparen kann. Kurz gefasst: Die Frisur sieht um ein vielfaches besser aus gedacht, nur den Hinterkopf gleichmäßig zu rasieren, das ist ein Akt, den ich nicht so leicht selbst bewerkstelligen kann. Besonders interessant finde ich die Ambiguität, die mit diesem neuen Schnitt einhergeht – einserseits fühle ich mich recht unsicher, was meine unprofessionell geschnittene Haarpracht angeht, andererseits ist mein Selbstbewusstsein (zumindest meine Frisur betreffend) größer denn je. Ich habe das selbst gemacht und es sieht wirklich nicht schlecht aus. Mein erstes Mal als Amateur-Auto-Friseur und ich bin nicht mal schlecht, was ein Erfolgserlebnis! Zeitgleich kam auch das Verlangen in mir hoch, mir wieder die Nägel lackieren zu lassen, wie vor einigen Tagen.

Ein Impuls, der wohl auch von meiner liberalen Definition von Sexualität inspiriert war. Wenn man aber ganz ehrlich ist, lackierte Nägel,  Schminke, all das hat eigentlich nichts mit Sexualität zu tun, sondern mit dem Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Unter naiven Erstsemestlern des Faches Philosophie wird man offenbar schon gefeiert dafür, dass man als heterosexueller Mann freiwillig Nagellack trägt… Diese Erfahrung liegt etwa eine Woche zurück. Ich habe mich mit einem sehr guten Freund auf eine Kneipen-Tour begeben, die in einer Studenten-Bar endete, die mit Erstis bestückt war. Da wir beide recht selbst-reflektiert und gefestigt in der Auffassung unserer eigenen Persönlichkeiten sind, waren diese neuen Leute, die wir an jenem Abend kennenlernten, sehr beeindruckt von uns und unserer Sicht auf die Welt. Der zynische Teil in mir würde sie für ihre Naivität verspotten, aber der Rest, der unsichere und menschenliebende Teil von mir, war begeistert von der Anerkennung, die ich dafür bekam, dass ich innerhalb der letzten zwei Jahre nur an mit gerarbeitet habe, an meiner Persönlichkeit. Endlich bin ich ein Individuum und werde dafür geschätzt, ja quasi vereehrt, und das von Fremden, obwohl mein einziger Verdienst ist, dass ich anders denke, als die meisten.

Was mir dieser Abend aber am meisten gelehrt hat ist, dass eine der wichtigsten Qualitäten im Leben die Selbstwertschätzung ist. Ich fühle mich wohl mit rudimentär rasiertem Haar. Ich fühle mich wohl mit mattem, grau-blauen Nagellack. Ich fühle mich wohl als unsicherer Comic-Leser, Filmkonsument und Hobby-Autor. Ich fühle mich wohler denn je in meiner eigenen Haut und meine Umwelt bestätgt mich in diesem Gefühl von Selbstliebe. Wenn ich aber eines gelernt habe in den letzten zwei Jahren, dann, dass ich auf gar keinen Fall, unter keinen Umständen meinen Selbstwert von dem Urteil anderer abhängig machen sollte. Ich weiß, dass ich wunderbar und einzigartig und kreativ bin. Das reicht mir. Alles andere darf nur zusätzliche Bestätigung sein. Genau das ist es, was ich versuche ständig weiterzugeben: Liebe dich selbst, wie du bist, denn du bist es wert. Lerne dich kennen, erfahre, wer du bist und was du willst und liebe es.

Ich habe mich mittlerweile mit dem Gedanken arrangiert, in Zukunft öfters die zehn Euro für den Haarschnitt zu sparen. Wenn ich wirklich eine kreative Berufung ergreifen will, werde ich sehr wahrscheinlich niemals wohlhabend sein. Ich kann mich dran gewöhnen, in Not zu leben. Wieder kommt wir Kurt Cobain in den Kopf: “thank you for the tragedy, I needed it for my art”. Das ist, denke ich, einer der Grundsätze, der mich mein Leben lang begleiten wird. Und ich liebe es.

Deutschland

Es ist halb zehn und ich laufe an dem spanischen Restaurant vorbei, das schon seit Wochen oder Monaten in unserer Nachbarschaft vegetiert und reminiszere. “San Miguel” wird da beworben, ein Bier, ein spanisches, das ich in meinem Urlaub, also vor circa einer Woche noch, öfters getrunken habe.

 

Ich spaziere, das erste Mal in diesem Herbst wieder in meinem grauen Mantel und hätte wohl doch lieber meinen grauen Schal mitnehmen sollen. Ich spaziere, weil ich mir zum einen vorgenommen habe, mich mehr zu bewegen (ein etwas älterer Impuls, der aber in Spanien neu entfacht worden ist) und zum anderen, weil es mir in meinem Kopf mal wieder zu laut wurde. Und da ja mein Zimmer nichts anderes ist als die Erweiterung meiner grauen Zellen, eine weitere, nur größere und möblierte graue Zelle, wenn man so möchte, musste ich raus, um atmen zu können. Plötzlich kann ich auch wieder Worte aneinanderreihen. Denken. Gute Idee, denke ich mir jetzt, aber vor zehn Minuten noch hätte ich überhaupt nicht soweit denken können. Ich denke, das kann man nur nachvollziehen, wenn man mal in meiner grauen Zelle gelebt hat.

 

Ich könnte jetzt wieder beginnen, von Spanien zu schwärmen, wie ich es die letzten Tage öfters tun musste. Wenn ich aber ehrlich bin ist Spanien nur etwas, dass mein Stern und ich verstehen können.

Retroperspektiv assoziiere ich Spanien mit Zufriedenheit und Sorglosigkeit, etwas, das sich in jenem Moment verflüchtigte, als ich ins graue Herbst-Deutschland zurückgekehrt war. Wie auf Kommando waren alle Ängste zurück, das Chaos im Kopf. Die Realität, vielleicht? Ich sollte aufhören, wieder zu philosophieren.

Ich mache mich auf den Heimweg. Zurück auf orange beleuchtete Straßen in meine graue Zelle. Soeben realisiere ich, dass ich in meinem Zimmer noch irgend etwas brauche, was warmes, das Spanien repräsentiert. Möglicherweise sollte ich gleich wirklich malen.

 

Ich höre immer wieder, so auch heute, wie berüchtigt der Stadtteil ist, in dem ich wohne und durch den ich gerade wandere. Offenbar steht er sogar auf einer Art “roten Liste” für Hinzuziehende. Als mir das früher am heutigen Tag im heiteren Gespräch eröffnet wird, erzähle ich, dass ich hier erst einmal mit einem Messer bedroht worden bin (was, obwohl es wahr ist, eher als Scherz gedacht war, aber nicht als solcher aufgefasst wird). Eigentlich mag ich es in Deutschland. Ich fühle mich wohl hier. Auch in meinem Viertel. Ich habe meinen Schreibtisch vermisst. In den letzten Minuten und in Spanien.

Ich habe die Theorie aufgestellt, dass es in Deutschland im Herbst wärmer ist, als im Sommer. Sobald die Temperaturen fallen, die Tage länger werden und die Bäume wieder von Haarausfall geplagt werden, feuern Einkaufszentren, Läden und Häuser ihre Heizungen an und urplötzlich ist es überall dreißig Grad heiß. Ich scherze überhaupt nicht, wenn ich sage, ich habe in den letzten Tagen in Deutschland mehr geschwitzt als während meines gesamten Aufenthalts in Spanien. Das ist bei aller Ehrlichkeit keine Übertreibung.

 

Ich fühle mich jetzt deutlich gefasster. Vielleicht sollte ich öfter rausgehen und spazieren, im warmen orangenen Licht und vor allem weit entfernt von Heizungen. Vielleicht sollte ich öfter meine graue Zelle verlassen, vielleicht sollte ich öfter Deutschland verlassen oder, um einen metaphorischen Winkel zu wählen, meine KomfortZone. Vielleicht sollte ich aber auch aufhören, wieder zu philosophieren und einfach machen.

Ich male jetzt was spanisches und schneide ein YouTube-Video.

Mein Zimmer

Seit wann habe ich so viele Schallplatten?

 

Eines, das ich aus Spanien mitgbracht habe, ist geriebene Tomaten mit Olivenöl und Kräutern auf Toastbrot. Das esse ich, dazu frisch gepressten Kaffe stilvoll aus der French Press von Ikea. Die French Press war ein kleiner Traum, mangels funktionierender Kaffemaschine im Haus und dank Koffeinsucht, schon fast ein kleines Verlangen. Darum habe ich sie nicht selbst gekauft, sondern meinen Mitbewohner unabhängig von meinen Überlegungen anschaffen lassen, der wohl ähnliche Gedanken hatte wie ich oder einfach in einen Kaufrausch verfallen war.

Ich ziehe an mir selbst den Vergleich zum Erzähler aus Fight Club… bin ich glücklicher, seit das Regal mit meinen indvidualisierten Filmen rechts über mir hängt?

 

Es ist Sonntag, zu meiner Verteidigung. Heute “morgen” gegen elf bin ich aufgestanden. Nachdem ich mich stundenlang durch Instagram scrollte und lange auf einem Autoren-/Künstler-Account hängenblieb, rappelte ich mich auf und murmelte “I should fucking write” und wieder war dieses Verlangen, ein Buch zu schreiben da. Worüber? Egal. Einfach schreiben. Warum ich morgens auf Englisch murmele, habe ich immer noch nicht ganz verstanden. Vielleicht gaukle ich mir selbst Bilingualität vor und, dass ich doch etwas aus meinem verworfenen (?) Studium mitnehme. Wobei, vielleicht studiere ich ja doch weiter, bei mir ist sowieso alles so schwammig aktuell.

Ich bin heute “morgen” aufgewacht im Zimmer eines Fremden und mit dem Blick des Jungen, der ich vor zwei Jahren war, als ich frisch und allein hierher gezogen war, um an die Uni zu gehen. Ich wollte mir eine Persönlichkeit schmieden: Kultiviert, künstlerisch, irgendwas in Richtung Mads Mikkelsens Hannibal Lecter, nur ohne Kannibalismus.

 

Damals machte ich mir gedanklich eine Liste – ich müsste einen Plattenspieler anschaffen, jeden Abend teuren Whisky aus einer Karaffe trinken, so meine Vorstellung. Wenn ich mich jetzt so in meinem Zimmer umschaue und aus dem Fenster, das seit 2 Jahren mindestens nicht geputzt wurde, mein Blick auf die herbstgoldene Eiche fällt, muss ich feststellen, dass ich es geschafft habe, mir eine Persönlichkeit zu schmieden und sie in das richtige Gewand zu stecken.

Ein Regal voller Comics und Schallplatten, eines voller Bücher, eines voller DVDs, weil ein Blu Ray-Player mir zu suspekt ist. Eine verstimme Gitarre in der Ecke, selbstgemalte Bilder an der Wand, Hannibal Lecter auch. Der war praktischerweise beinahe seit Anbeginn dabei, um alles zu beobachten, wenn man so romantisch reden möchte.

 

Mein Raum macht mich glücklich, er hilft mir, mich wohler und wohler zu fühlen, mit dem, der ich seit zwei Jahren werde. Und, verdammt, ich habe keine Ahnung, wohin der Weg geht. Immerhin weiß ich die grobe Richtung und bin mir nicht zu schade, nach dem Weg zu fragen. Auch das musste ich erst einmal lernen. Ich bin in letzter Zeit oft gefallen, liegen geblieben, aber lebe von Höhen.

Ich habe mit einem Freund einmal darüber geredet, ob ich Materialist bin und darüber gestritten, ob das glücklich machen kann. Fallbeispiel, meine Platten. Die mattschwarzen Scheiben, durch die ich Musik so lieben gelernt und durch die ich meinen Patronen Bowie kennengelernt habe. Wenn ich meine Platten höre, anschaue, in der Hand halte, dann höre ich meine Erinnerungen, sehe den Flohmarktstand vor mir und fasse das erste Mal diese magischen Rillen an, die die Nadel später in meinem Raum streichelt. So habe ich meine ersten Alben gehört. Mit meinem billigen und blechern-klingenden Spieler, wahrscheinlich mit Wein oder Whisky in der Hand. Daran denke ich.

Und ich bin mir sicher, dass, wenn mein Haus explodiert, so wie das des Erzählers aus Fight Club, ich den Dingen gar nicht so nachtrauern würde. Ich kann mir ja wieder einen neuen Raum bauen, eine neue Halle für meine ausbaufähige Persönlichkeit. Das Gefühl und meine Erinnerungen bleiben und alles andere ist nur ein Weg gewesen, mich ausdrücken zu können. Eine Platte, dieich besitze, ist ein Stück Mobiliat, dass einen Teil von mir beschreibt. Wenn meine Wohnung in die Luft fliegt, dann geh ja nicht ich verloren (vorausgesetzt natürlich, ich werde nicht auch von den Flammen verschlungen, ein Gedanke, von dem ich nicht weiß, ob ich mit ihm warm werden könnte oder mir gar nicht erst vorstellen möchte).

 

Hier sitze ich jetzt also. Ohne Job, immer noch immatrikuliert, die Bowie-Platte hörend, die ich mir in meiner Heimatstadt gekauft habe. “Fame”, der Song, zu dem ich meine erste Zigarette geraucht habe. In meinem Kopf ist immer noch die Stimme meiner Mutter, die mich fragt, ob sie mir die fünfzehn Euro wert wäre… mittlerweile hätte ich die gleiche Scheibe auch für neun bekommen könne, aber ja. Ja, das war sie mir wert. Und wenn mein Haus explodiert, weiß ich, wo ich sie neu und billiger wiederfinde.

Ich finde so viel, wofür ich gern lebe. Ich liebe meine bezaubernde Freundin, die Aussicht, irgendwann von geschriebenen Worten leben zu können, meine Familie und Freunde. Ich liebe meine Internet-Freunde. Ich liebe mich. Und den mittlerweile immateriellen Toast aus Spanien.